Wie wir Sozialpsychiatrie verstehen

Sozialpsychiatrisches Denken und Handeln

  • versteht den Menschen ihn seiner psychischen, sozialen und körperlichen Dimension und geht davon aus, dass Gesundheit und Krankheit nie allumfassend sind, sondern nebeneinander bestehen und ineinander übergehen.
     
  • bezieht sich gleichermassen auf das Verständnis von Entstehung und Auswirkung psychischer Störungen, wie auf Methoden von Therapie und Behandlung sowie die Organisation von Versorgungsstrukturen.
     
  • wandelt sich stets mit sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen, neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen.

Wir verstehen Sozialpsychiatrie nicht als Spezialgebiet, sondern wir sind überzeugt, dass seelische Gesundheit und psychische Krankheit nur vom ganzen Menschsein her verstanden werden können. Viele sprechen heute von der bio-psycho-sozialen Psychiatrie, ohne sich genau dazu zu äussern, wie dieses Modell in der Praxis gelebt wird. Häufig bleibt bei genauem Hinsehen nur eine dieser Dimensionen übrig oder sie stehen unverbunden nebeneinander. Wir sind der Ansicht, dass es besonderer Anstrengung und besonderer Betonung bedarf diese drei Dimensionen gleichberechtigt und miteinander verbunden  in Behandlung, Rehabilitation, sozialem Alltag und Politik zu leben. 

Daher möchten wir gerne in Anlehnung an Luc Ciompis Äusserung am Jahreskongeress der SGPP und der SGSP in Genf 2009 anmerken, dass es vor allem um ein sozio- psycho- biologisches und weniger um ein bio- psycho- soziales Modell geht, da wir anderen Menschen zuallererst in einem sozialen Kontext begegnen. 


Aspekte sozialpsychiatrischen Denkens und Handelns:


Lebensweltorientierung

Das Gegenüber im sozialpsychiatrischen Handeln sind Menschen mit ihrer Geschichte und ihrem Lebensentwurf in einem konkreten familiären, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext - mit ihren persönlichen, politischen und sozialen Rechten als Bürger.
Es geht darum

  • wie sie unter Berücksichtigung ihrer gesundheitlichen Situation, ihr Leben gestalten und die vielfältigen Anforderungen bewältigen können und wollen.
  • wie wir mit ihnen in Beziehung treten und sie auf ihrem Weg zu Recovery unterstützen können.
  • wie Strukturen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen so beeinflusst und gestaltet werden können, damit psychische Gesundheit gefördert wird und psychisch erkrankte Menschen die erforderliche Unterstützung erhalten.  

Netzwerkorientierung

bedeutet, dass wir nicht nur jeden Menschen in seinem Netzwerk sehen, sondern dieses in die Zusammenarbeit einbeziehen und uns selbst als Teil dieses Netzes verstehen.
Dazu gehört auch das Erkennen von Ressourcen im informellen Umfeld (Stützen von Selbsthilfe der Psychiatrieerfahrenen und deren Angehörigen und anderen Beteiligten).
Entsprechend haben Helfende immer wieder die eigene Rolle, sowohl in Bezug auf das gesamte Netzwerk professionell und informell Beteiligter, aber auch spezifisch in der Zusammenarbeit mit Fachpersonen anderer Professionen zu reflektieren .

Subjektorientierung
und  nicht dichotomes Gesundheits- und Krankheitsverständnis

Das Zusammenwirken körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren beeinflusst während unseres gesamten Lebens die Balance zwischen Gesundheit und Krankheit, an deren Verlieren und Wiedergewinnen jeder Mensch in seinem Lebensvollzug beteiligt ist.
Ein subjektorientierter Ansatz sieht den Menschen immer als subjektiven Deuter und Bewältiger seiner je individuell erfahrenen Welt. Auch unter ausserordentlichen, die Normalität völlig überschreitenden Zuspitzungen individuellen Erlebens setzen wir voraus, dass der betreffende Mensch versucht, subjektive Sinnstrukturen auf irgendeine Weise zu konstituieren: „Die andere Person ist wie meinesgleichen, ihrem Erleben ist die gleiche Begründetheit zuzugestehen, wie ich es in Anspruch nehme“.


Reflexion sozialpolitischer Zusammenhänge und politisches Handeln

Materielle Existenzsicherung, gesundheitsunterstützende Arbeitsmilieus, die Organisation des Gesundheitswesens, die Teilhabe und die Wahlmöglichkeit unterstützender gesellschaftlicher Strukturen sowie die Gestaltung und Umsetzung einer entsprechenden Politik und Gesetzgebung sind entscheidende Voraussetzungen für psychische Gesundheit.
Sozialpsychiatrisches Handeln ist darum nicht auf die Ebene der Zusammenarbeit mit den Patienten beschränkt, sondern setzt auch Denken und Handeln auf gesellschaftlicher und politischer Ebene voraus.